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Beats Biblionetz - Begriffe

Truthahn-Illusion

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iconSynonyme

Truthahn-Illusion, turkey illusion, Illusion des kalkulierbaren Risikos

iconDefinitionen

Gerd GigerenzerVersetzen Sie sich in die Gemütsverfassung eines Truthahns. Am ersten Tag Ihres Lebens kam ein Mann. Sie befürchteten, er wolle Sie töten, aber er war freundlich und gab Ihnen Futter. Am folgenden Tag näherte sich der Mann erneut. Wird er mich wieder füttern? Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie können Sie berechnen, wie groß die Aussicht dafür ist. Die Laplace-Regel, so benannt, weil der bedeutende Mathematiker Pierre Simon de Laplace sie abgeleitet hat, liefert die Antwort: Wahrscheinlichkeit, dass etwas abermals geschieht, wenn es schon n Male vorher geschehen ist = (n+1)/(n+2). Hier ist n die Zahl der Tage, die der Bauer Sie gefüttert hat. Das heißt, nach dem ersten Tag beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der Bauer Sie am nächsten Tag füttern wird, 2/3, nach dem zweiten Tat steigt sie auf 3/4 und so fort, sodass die Gewissheit mit jedem Tag zunimmt. Gleichzeitig wird die Alternative, dass er Sie töten könnte, immer unwahrscheinlicher. Am Tag 100 ist es fast gewiss, dass der Bauer kommt, um Sie zu füttern – das könnten Sie jedenfalls meinen. Was Sie nicht wissen: Dieser Tag ist der Tag vor Thanksgiving. Ausgerechnet an dem Tag, an dem die Wahrscheinlichkeit gefüttert zu werden, größer als je zuvor ist, kommen Sie unters Beil.
Von Gerd Gigerenzer im Buch Risiko (2013) im Text Gewissheit ist eine Illusion

iconBemerkungen

Gerd GigerenzerEs besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem unerwarteten Ende des Truthahns und der Unfähigkeit von Experten, Finanzkrisen vorauszusagen: Beide verwenden Modelle, die kurzfristig funktionieren mögen, aber nicht die Katastrophe erkennen können, die weiter in der Zukunft droht. Wie im Fall des Truthahns beruhte die Risikobeurteilung beim US-amerikanischen Immobilienmarkt auf historischen Daten und Modellen, die im Prinzip der Laplace-Regel ähnelten. Da die Immobilienpreise ständig stiegen, schien das Risiko abzunehmen. Am größten war das Vertrauen in die Stabilität unmittelbar vor Beginn der Immobilienkrise. Noch im März 2008 erklärte US-Finanzminister Henry Paulson: »Unsere Finanzinstitutionen, Banken und Investmentbanken sind stark. Unsere Kapitalmärkte sind robust. Sie sind effizient. Sie sind flexibel.« Kurz darauf stürzte die ganze Wirtschaft in Turbulenzen. Die Risikomodelle, auf die Paulson seine Aussage stützte, sahen nicht das Ausmaß der Blase voraus, so wie der Truthahn nicht die Bedeutung von Thanksgiving voraussah. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Steuerzahler den Banken, statt sie zu schlachten, aus der Klemme halfen. Modelle, die von einem bekannten Risiko ausgehen, sind unter Umständen eher geeignet, eine Katastrophe heraufzubeschwören, als dazu, sie zu verhindern.
Von Gerd Gigerenzer im Buch Risiko (2013) im Text Gewissheit ist eine Illusion

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